Weihnachtsgeschichten


Die Linzerräder

Teil I


Es war einmal ein Stadtherr, mächtig an finanziellen Mitteln und, wie dies nun einmal einhergeht, auch mit großem Einfluss. Er regierte seit Jahrzehnten, denn es gab niemanden, der ihm die Stirne bot - außer einen: Den Bürger Josh Linztri. Die Fehde zwischen Linztri und dem Stadtherren hatte begonnen, als der hiesige Bäcker verstorben war und Linztri mit seiner Frau die Stelle eingenommen hatte. Doch hätte der Bürgermeister zuvor gewusst, dass es sich um einen Gesellen handelte, der ihm so gar nicht zu Gesicht stand und der obendrein eine bildschöne Frau hatte, die des Stadtherren Avancen schlichtweg übersah, hätte er sie nie und nimmer in sein Städtchen ziehen lassen.

(Seit damals bekamen Leute von außerhalb übrigens nur dann eine Arbeit in seinem Reich, nachdem er sie zuvor genau begutachtet hatte. Zusagen per Brief, und hatte der Bewerber noch so gute Referenzen beigelegt, waren von da an Geschichte.)

Der gegenseitige Argwohn gipfelte und so versuchte einer den anderen öffentlich schlecht zu machen. Es bildeten sich Parteien. Jene, die gar nicht mehr in die Bäckerei gingen und jene, die erst recht hingingen.

Eines Tages kam es, dass ein Gutsbesitzer, der zahlreiche Waldstücke besaß, dem Städtchen den größten Christbaum schenkte, den die Menschen dort je gesehen hatten. Als er geschlägert wurde, versammelte sich das Volk im Wald und sogleich war man sich einig, das Ereignis mit einem Fest zu verbinden.
Es wurde ein großes Feuer entfacht, gelacht, gegessen, getrunken, gesungen und schließlich kam der Höhepunkt - die Schlägerung des Baumes. Zwei Holzknechte, deren Oberarme jeweils den Umfang von gut vier Männern hatten, stellten sich neben die Tanne und schritten mit ihren Äxten wie wild zur Tat. Das Holz splitterte dabei nur so zur Seite und manche, die näher standen, mussten zurücktreten, um nicht von einem Splitter getroffen zu werden.
Eine halbe Stunde, viel höhnischem Gelächter (die Knechte brauchten ein paar Verschnaufpausen, was so manchen Bürger ob ihrer Kräfte belustigte) und zwei hochroten, aber dennoch hochzufriedenen Gesichtern später, fiel der Baum.
Da lag er nun, der hölzerne Riese. Stille machte sich nach dem ohrenbetäubenden Lärm aus einer Mischung von aufgeregtem Stimmengewirr, Jubel und knirschendem Holz breit. 

Die Leute standen mit teils offenen Mündern da, manch einer wagte nicht einmal einen Wimpernschlag. Doch dann durchbrach eine alte zittrige Stimme das Schweigen:
"Ich will ja nicht meckern, aber wie wollt ihr denn das Ungetüm, jetzt, wo ihr es bezwungen habt, in die Stadt bringen? Hat sich das einer von euch vielleicht vorher überlegt? Hahahah hihihihiii!!!!" durchdrang das spöttische und schrille Gelächter des Alten den Wald.
Wie aus dem Schlaf gerissen, blickten sich die Bürger verdutzt an.
"Der Alte hat recht!" schrie plötzlich einer aus der Menge.
"Ja genau", stimmte ein anderer zu.
Auf die Stille folgte wieder lautes Stimmengewirr.
"Niemand im Ort und wahrscheinlich nicht einmal einer irgendwo auf der ganzen weiten Welt hat ein Gefährt, dessen Räder stark genug sind, um diesen Monsterbaum zu transportieren, geschweige denn ihn durch diese Schneemassen zu ziehen. Ahahahh!!" schrie ein weiterer, der mit dieser Aussage sich und dazu alle anderen köstlich amüsierte.
"Vielleicht können ihn ja die zwei Muskelprotze in die Stadt tragen. Hahahahah!!!" schrie wieder ein anderer in die Richtung der Holzknechte.
"Das sagst Du kein zweites Mal, Du Schmalhans!" ging es auf einmal einem der beiden durch und er stürzte mit geballten Fäusten auf den vorlauten Bürger zu. Gerade noch rechtzeitig konnten ihn sieben Männer zurückhalten.

"Ruhe jetzt! Haltet alle euren Mund!" entfuhr es plötzlich dem Stadtherren. Ich verspreche euch, dass wir diesen Baum in der Mitte unserer wunderschönen Stadt aufstellen werden. So wahr ich Stadtherr bin, werde ich morgen eine Lösung verlautbaren lassen!"
Wieder sahen sich die Leute an und auf einmal begannen alle zu klatschen und zu jubeln.

 So kam dem findigen Stadtherrn eine Idee. Da er selbst eine Schmiede besaß, schrieb er einen Wettbewerb aus, den er gleich für seine Zwecke nutzen konnte. Als der Tag herangebrochen war, ließ er Folgendes,  auch in allen umliegenden Ortschaften, verlautbaren:


"Verkündung des Stadtherren!

Wer in der Lage ist, Räder zu fertigen, wird hiermit aufgefordert und eingeladen, dies zu tun. Im Rahmen des Wettbewerbs geht jener als Sieger hervor, der imstande ist, die besten und bedeutendsten Räder zu fertigen, an die sich die Menschheit noch Jahrhunderte später erinnern wird!

Die Entscheidung wird am 1. Adventsonntag um 15 Uhr im Wald, beim geschlagenen Baum, getroffen!"

Er wusste, dass seine Schmiede die beste des Landes war - der Sieg des Bewerbes war ihm also schon sicher. Die Werbung für sein Unternehmen hätte also besser nicht sein können.
Kaum war die Botschaft verlesen, machten sich alle, die sich angesprochen fühlten, an die Arbeit. Diesen Sieg wollte sich keiner durch die Lappen gehen lassen. Nur einer durchschaute den Plan des Bürgermeisters – Josh Linztri. Er ahnte, was der Stadtherr im Schilde führte.

Als er so am Abend in der Backstube saß, überlegte er, wie er seinen Widersacher überlisten und ausstechen könnte. Dabei sah er seiner Frau, die dafür bekannt war, die köstlichsten Süßspeisen weit und breit zu fertigen, beim Backen von Keksen zu. Gerade, als sie einen Becher nahm um mit diesem einige Kekse auszustechen, sprang er plötzlich auf.
„Das ist es!“ rief er begeistert und wirbelte seine Frau im Kreis umher, während er wie ein kleines Kind auf- und absprang.
„Bist du verrückt geworden, Mann?“ fragte ihn das verwunderte Weib, denn es befürchtete, ihr Mann habe den Verstand verloren.
„Im Gegenteil, Weib! Im Gegenteil!“ schrie er und drückte ihr einen leidenschaftlichen Kuss auf den Mund.

Diesmal würde er den Bürgermeister mit Schlauheit übertrumpfen. Also backte er mit seinem treuen Weib hunderte von Keksen und zwar so eifrig, dass der Schornstein schon zu husten begann.


Endlich war der Tag gekommen, an dem sich alle Schmiede des Landes versammelten, um ihre Arbeiten zu präsentieren. Schon am frühen Morgen rollten die ersten Wägen mit ihren riesigen Rädern durch die tief verschneite Stadt in den Wald, und im Laufe des Tages häuften sich eiserne, hölzerne, größere, noch viel größere und gigantisch große Räder an.
Als die Uhr des weiß bedeckten Kirchturms, die so laut war, dass ihr Glockenwerk sogar noch im Wald zu hören war (der Bürgermeister hatte eindeutig einen Hang zur Übertreibung), 15 Uhr geschlagen hatte, betrat nun auch der Stadtherr das Geschehen. Hinter ihm rollten seine Schmiede ein Gefährt mit den riesigsten und wuchtigsten Rädern her, die man je gesehen hatte. Mit geschwellter Brust stolzierte er voran.

Der Juror, der niemand Geringerer als der Gönner des Baumes war, staunte nicht schlecht, als sie vor ihm zu stehen kamen. Zwar schien der Sieger schon von vorne herein festzustehen, doch der Gutsbesitzer, ein gerechter Mann, prüfte alle Räder auf ihre Tauglichkeit. Mittels einer eigens gebauten Vorrichtung, mit der man den Christbaum auf die jeweiligen Wägen heben konnte, fand man heraus, welche Last die Räder zu tragen vermochten. Doch einer nach dem anderen knickte weg, wie Ähren in einem Sturm. Nur ein Wagen bestand die Probe - jener des Stadtherren. 

Auch Linztri war mit seiner Frau gekommen, jedoch beobachteten sie die Ereignisse aus dem Hintergrund.
Gerade, als der Gutsherr den Bürgermeister zum Sieger küren wollte, tönte es aus dem Publikum:
„Haltet ein!“ Es war Linztri. Der Gutsherr kniff die Augen zusammen, welche ihm die schneidende Kälte von alleine offen zu halten schien, um besser sehen zu können, wer ihn stoppte. Als er Linztri erblickte, fragte er:
„Was hast du noch zu sagen Bürger Linztri? Der Sieger steht so gut wie fest!“
„Das mag wohl sein, doch ich habe noch Räder zur Besichtigung für euch“, rief Linztri ihm selbstbewusst entgegen.
„Ich kann aber keines sehen. Hast Du es in Deinen Hosentaschen versteckt?“ fragte der Stadtherr hämisch und brach in schallendes Gelächter aus, in das die Menge sofort einstimmte.
„Wohl kaum!“ antwortete Linztri, nachdem sich das Volk wieder beruhigt hatte, und deutete seiner Frau, sie solle zu ihm kommen. Er nahm einen Korb aus ihren Händen und überreichte ihn dem Gutsbesitzer.


Teil II

Ratlos nahm ihn dieser entgegen und klappte den Deckel zurück. Er griff hinein und streckte dem Publikum zwei mit Marmelade zusammengeklebte Räder entgegen, von dem eines in der Mitte drei Löcher hatte. „Was soll das sein, Freund? Gedenkst du die Tanne mit Backwerk zu transportieren?“ fragte der Gutsbesitzer Linztri verdutzt. Wieder brach das Volk in Gelächter aus.


„Ihr habt alle Räder für den Transport geschmiedet und gezimmert“, sagte Linztri zum Publikum. „Doch ich habe mit meiner Frau etwas geschaffen, das noch besteht, wenn die Räder schon längst zusammengebrochen sind.“ Ungläubig sah der Gutsbesitzer auf das gebackene Rad in seiner Hand, bis er schließlich sprach:

„Bürger Linztri, ich weiß nicht, was du im Schilde führst. Du sprichst in Rätseln“, sagte er und forderte Linztri auf, Licht in die Angelegenheit zu bringen.

„Soweit ich mich erinnern kann, hieß es in der Verlautbarung:

'... Im Rahmen des Wettbewerbs wird jener als Sieger hervorgehen, der imstande ist, die  besten und bedeutendsten Räder zu fertigen, an die sich die Menschheit noch Jahrhunderte später erinnern wird! ...'

 Die von uns gefertigten Räder sind nicht nur die besten, weil sie hervorragend schmecken, sie sind auch noch dazu die bedeutendsten Räder! Denn nachdem ein paar Jahre ins Land gezogen sind, erinnert sich bestimmt niemand mehr, dass einst der schönste Christbaum in unser wunderschönen Stadt stand und für den Transport desselben ein Wettbewerb ausgerufen wurde. Doch, dass für diesen Anlass das köstlichste Backwerk erstellt wurde, das mein bescheidenes Weib und ich eigens für diesen Anlass kreiert haben, das werden die Leute auch noch Jahrhunderte danach wissen. Durch sie wird man sich die Geschichte des Christbaums außerdem noch Jahre danach erzählen."

"LIIINZTRIIIIIII!" schrie der Bürgermeister wutentbrannt. "Was versuchst du da für einen üblen Trick? Die Räder sollen den Baum unter sich tragen können! Ich ..."
 "So weit ich mich erinnere, steht aber von einem Transport nichts in deiner Verlautbarung. Du hast nur geschrieben:

 'Wer in der Lage ist, Räder zu fertigen, wird hiermit aufgefordert und eingeladen, dies zu tun. ...`

Wie ihr euch alle überzeugen könnt, habe ich Räder gefertigt. Gut, sie sind süß, aber auch von dem Material hast du nichts geschrieben! Meine Räder sind eindeutig die besten von allen und zwar in ihrer Nachhaltigkeit und in ihrem Geschmack! Und obendrein sind sie auch noch eine Werbung für die Stadt. Wenn sich erst die Nachricht von den unwiderstehlichen, herrlichen, süßen Rädern verbreitet hat, werden die Leute von nah und fern zu uns strömen, um sie zu kaufen. Aber probiert selbst und ihr werdet wissen, wovon ich spreche.“

Der Gutsherr zweifelte an Linztris Verstand, doch er kam nicht umhin, die köstlich duftende Bäckerei zu versuchen. Langsam und genüsslich ließ er das zarte Gebäck auf seiner Zunge zergehen. Gebannt starrte das Volk auf den Gutsherrn und wartete auf seine Reaktion. Doch außer, dass seine Augen immer größer und größer wurden, konnten die Leute nichts von seinem Gesicht ablesen. Wortlos drückte er dem Bürgermeister den Korb in die Hände. Gierig griff er hinein uns schob sich noch gieriger ein Rad in den Mund.

"Mmpff ... so ein Un...mpfff..si ... .“ Plötzlich stockte er. Schmeckte, prüfte so eindringlich, dass ihm schon seine buschigen Brauen über die Augen hingen.
„Ihr ... ihr ...  ihr habt recht! Noch nie zuvor habe ich ein köstlicheres Backwerk gegessen! Linztri! Das Backwerk wird uns über die Grenzen des Landes bekannt machen! Und es werden Leute kommen, Touristen. Sie werden von überall herkommen, um die Räder zu kaufen. Davon bin ich überzeugt! So wie in die Stadt, in der sie diese kleinen Kugeln aus Schokolade verkaufen! Linztri! An meine Brust, mein lieber Linztri! An meine Brust!"

Doch Josh Linztri hatte gar keine Wahl. Kaum hatte der Stadtherr den letzten Satz zu Ende gesprochen, drückte er den Bäcker schon an dieselbe.

 "Lasst mich aus eurem Griff!" schrie er.
"Ach Linztri! Lasst uns die lächerlichen Differenzen vergessen", so der Stadtherr.
"Das würde euch so passen!" fauchte Linztri zurück.
"Bürger Linztri? Wäre nicht gerade jetzt der beste Zeitpunkt, die Streitigkeiten versiegen zu lassen?"
Misstrauisch sah Linztri den Gutsherren an und sein Blick schweifte dann zum Bürgermeister, der ihn mit ein paar Krümeln in den Mundwinkeln noch immer breit angrinste.
"Na gut. Dann sei es so!" rief Linztri und streckte dem Stadtherren die Hand entgegen, in die er gerne einschlug.

Die Leute konnten ihre Neugierde jedoch nicht mehr zügeln. Sie stürzten auf den Bürgermeister, der den Korb noch immer in der einen Hand hielt, zu, und entrissen ihm diesen. Jeder Einzelne probierte die Räder und jeder, der nur einen Bissen davon nahm, begann zu jubeln.

So kam es, dass man sich einig wurde, zwei Sieger zu ernennen. Den Bürgermeister, der das größte und robusteste Rad geschmiedet hatte, um den Christbaum zu transportieren, und den Bürger Linztri. Noch heute weiß man um die köstliche Bäckerei der Linztri-Räder, die im Laufe der Zeit zu den Linzer Rädern wurden.



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